Das polnische Institut
für Nationales Gedenken (Instytut
Pamięci Narodowej) hat die Internationale Gesellschaft MEMORIAL 2012 mit
dem Preis für die Bewahrung des nationalen Gedächtnisses ausgezeichnet, einem
Preis, der jährlich Organisationen und Personen verliehen wird, die sich für die
Erinnerung an die Geschichte Polens von 1939-1989 einsetzen.
Arsenij Roginskij bedankte
sich im Namen von MEMORIAL für die Auszeichnung:
„Die historische
Erinnerung ist die Grundlage jedes nationalen Selbstverständnisses. In Polen
ist dies besonders zu spüren.
Für die Gesellschaft MEMORIAL
ist das „polnische Thema“ seit etlichen Jahren ein sehr wichtigstes Thema. Sie untersucht
die Geschichte der Verfolgungsaktionen gegen Polen und polnische Bürger (so
trägt denn auch einer der ersten von MEMORIAL herausgegebenen Sammelbände den Titel:
„Verfolgungen von Polen und polnischen Bürgern“). Wir haben Hunderttausende Schicksale
von Polen recherchiert, die in Stalins Vernichtungsmaschinerie geraten und von ihr
zerstört worden sind. Diese Forschungsergebnisse von MEMORIAL werden zum Teil
der polnischen wie der russischen Erinnerung.
Warum aber konzentrieren wir
uns in unserer Arbeit so auf das „polnische Thema“? Weil das Bild von Polen,
das im russischen nationalen Gedächtnis, im russischen nationalen Bewusstsein
entstanden ist, ein besonderes kulturelles Phänomen darstellt, das im
gegenwärtigen Russland eine wesentliche Rolle spielt.
Dass das „polnische Thema“
für Russland von besonderer Relevanz ist, hat mehrere Ursachen. Ich will hier
nur auf zwei eingehen. Erstens gibt es im sowjetischen kulturellen Bewusstsein
der 1950er-70er Jahre einen „polnischen Mythos“. Zweitens sind die mit unserer
Geschichte verflochtenen polnischen Sujets zu einem symbolischen Indikator
geworden, zu einem spezifischen Lackmustest, der in der leidenschaftlichen öffentlichen
Kontroverse um die eigentlich russische und die eigentlich sowjetische
Geschichte die Positionen erkennen lässt.
Zum „polnischen Mythos“:
Seine historische Komponente geht noch auf Alexander Herzen zurück und ist fest
in der russischen kulturellen Tradition verankert. Das ist das tragische und
heroische Bild Polens als des ewigen Rebellen und – von Kościuszko bis zur
Heimatarmee – des ewigen Opfers des russischen Imperialismus. In diesem Rahmen fügte
sich die russische Erinnerung an den sowjetischen Terror gegen die Polen
gewöhnlich in die Konzeption einer zweijahrhundertelangen Schuld Russlands
gegenüber Polen ebenso ein wie in die Konzeption einer metaphysischen Schuld
Russlands gegenüber sich selbst.
In der zweiten Hälfte der
1950er Jahre trat zu diesem traditionellen „polnischen Mythos“ im russischen
Nationalbewusstsein noch eine weitere, kulturelle Komponente hinzu: Die Prosa
und Poesie polnischer Literaten der Kriegsgeneration, polnische Filmregisseure,
die Bildende Kunst der polnischen Avantgarde, aber auch Arbeiten polnischer
Soziologen, die halbfreien Zeitschriften, die in Polen seit Ende der 1950er
Jahre erschienen, wurden in Russland mit besonderer Aufmerksamkeit rezipiert.
In politischer Hinsicht konstituierte sich das Bild des kämpfenden Polens durch
den „polnischen Oktober“ 1956, den „polnischen März“ 1968, die Streiks von
1976, die Tätigkeit des KOS-KOR, die Revolution durch die Solidarność usw.
Dieses Bild, das vorwiegend bei der sowjetischen liberalen Intelligenz
vorherrschte (aber nicht nur), war nichts anderes als das Echo von etwas, was
es bei uns nicht gegeben hatte: all dessen, was in der polnischen Kultur und im
polnischen öffentlichen Leben existierte und wozu es nicht in der sowjetischen
Kultur und im sowjetischen öffentlichen Leben gekommen war, was es allenfalls
in ersten Anfängen gegeben hatte, um dann sofort brutal unterdrückt zu werden.
In den letzten beiden
Jahrzehnten allerdings ist dieses „Bild Polens“ in den Hintergrund getreten. Es
tauchte ein anderes, konkurrierendes Bild auf. Polen wurde Gegenstand einer
heftigen historischen Auseinandersetzung in der postsowjetischen russischen
Gesellschaft.
Kernpunkt dieser
Diskussionen sind die Ereignisse von 1939-40.
Ungeachtet der
gegensätzlichen Bewertungen der historischen Ereignisse werden diese selbst allmählich
zum Bestandteil historischer Grundkenntnisse. Es handelt sich um das geheime
Zusatzprotokoll zum Molotov-Ribbentrop-Pakt, das Überschreiten der
sowjetisch-polnischen Grenze am 17. September 1939 durch die Rote Armee auf dem
Höhepunkt des heroischen und aussichtslosen Kampfes der polnischen Armee gegen
die Nazis, die Erschießung polnischer Kriegsgefangener in Katyn‘, Kalinin und
Char’kov.
Es geht nicht um die
Fakten: Nur wenige versuchen heute in Russland, diese Fakten zu bestreiten. Es
geht um Interpretationen und Wertungen. Da es ihnen an Argumenten fehlt, gehen
russische Großmachtsverfechter und Nationalpatrioten so weit, Katyn‘ als
„rechtmäßige Antwort“ auf den Tod sowjetischer Rotarmisten in polnischen
Kriegsgefangenenlagern 1920-21 zu erklären, oder sie verweisen auf Kränkungen noch
aus dem 17. Jahrhundert.
Zugleich versuchen ihre
Opponenten – darunter auch MEMORIAL – gerade bei russisch-polnischen Themen solche
Ansätze für die gemeinsame Arbeit an der Vergangenheit zu finden, die uns mit
unseren Nachbarn nicht entzweien, sondern zusammenbringen und versöhnen. Nicht
nur mit den Polen, sondern auch mit Ukrainern, Litauern, Letten, Esten,
Georgiern und allen anderen.
Wir wollen dazu
beitragen, dass russische Bürger das gesamte Ausmaß der polnischen Tragödie des
20. Jahrhunderts erkennen und sie als Teil ihrer eigenen Geschichte begreifen.
Diese Arbeit muss sich in
erster Linie auf die Erinnerung stützen – auf die konkrete persönliche und Familienerinnerung
der Menschen, die im europäischen Norden Russlands, im Ural, Sibirien und
Kazachstan leben. Es ist diese Erinnerung, die viele Dutzend Menschen in der
Provinz dazu treibt, Überreste polnischer Sondersiedlungen in der Taiga und
aufgegebene polnische Friedhöfe aufzuspüren und auf einer Karte zu verzeichnen,
Erzählungen lokaler alter Einwohner über die polnische Verbannung
zusammenzutragen. Diese Erinnerung lebt auch in den jüngeren Generationen fort:
In den Aufsätzen von Oberstufenschülern, die MEMORIAL jährlich beim Gesamtrussischen
Wettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“ erhält, sind
immer mehrere Arbeiten dabei, die das „polnische Milieu“ in den russischen
Regionen behandeln. (Am Rande sei vermerkt, dass wir die Idee zu diesem
Wettbewerb unseren Kollegen der Warschauer „Karta“ verdanken.)
MEMORIAL will sich nicht
vom polonophilen Erbe der sowjetischen Sechziger lossagen. Auch wenn es zum
Teil auf einer Mythologisierung beruht, möchten wir uns dennoch nicht völlig von
diesem romantischen Bild Polens unserer Jugend trennen. Warum sollten wir das auch
tun? Im letzten halben Jahr haben wir gesehen, wie unerwartet und sozusagen aus
dem Nichts der Geist der Sechziger auf den Moskauer Straßen und Plätzen wieder
ersteht, und das nicht einmal bei den Kindern, sondern den Enkeln und Urenkeln
der Sechziger. Der „polnische Mythos“ wird zweifellos in irgendeiner Form wieder
im Bewusstsein der neuen Generationen hochkommen.
Jedoch haben wir uns in
den zwei Jahrzehnten, in denen wir uns mit der sowjetischen Vergangenheit
auseinandergesetzt haben, allmählich von der Sichtweise der Sechziger gelöst,
die von einer metaphysischen nationalen Schuld eines Volkes gegenüber einem
anderen oder auch eines Volkes sich selbst gegenüber ausging. Wir teilen generell
nicht die Vorstellungen einer „Kollektivschuld“ – diese Vorstellungen
entsprechen nicht dem modernen Verständnis von Freiheit und Menschenwürde. In
unserer Arbeit lassen wir uns nicht vom Gefühl einer Kollektivschuld leiten,
sondern vom Bewusstsein der individuellen bürgerlichen Verantwortlichkeit jedes
Einzelnen von uns für Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, auch für
Ereignisse, die nicht uns, sondern unsere Eltern, Großeltern und Vorfahren betrafen,
ebenso wie jeder von uns die bürgerliche Verantwortung für das trägt, was heute
in unserem Lande geschieht. Übrigens – nicht jeder, sondern nur, wer bereit
ist, diese Verantwortung auf sich zu nehmen, für den das „historische Erbe“
kein leeres Wort ist und keine Auflistung großer Siege und Errungenschaften,
sondern die nationale Geschichte im Ganzen, mit allen Erfolgen und
Katastrophen, sei es Ruhm, sei es Schande.
In der Geschichte kommt
es nicht darauf an, die Schuld – ob die eigene oder die der anderen – zu
suchen, sondern darauf, die Tragödien der Vergangenheit zu verstehen und die
eigene Verantwortung für sie zu begreifen.
Unser Ziel ist, dass
möglichst viele unserer Mitbürger unsere Einstellung zur Vergangenheit teilen,
ja dass eine solche Einstellung zur eigenen nationalen Geschichte mit der Zeit auch
bei unseren Nachbarn entsteht. Vielleicht gibt uns
dieser Ansatz die Möglichkeit, eines Tages die gemeinsame Vergangenheit
gemeinsam erinnern zu können.“
http://www.memo.ru/d/113699.html, http://hro.org/node/14254, http://www.ipn.gov.pl/portal/en/2/601/quotCustodian_of_National_Memoryquot_Prize_2012.html