Montag, 27. Mai 2013

Erstattung einer alten Schuld: Arsenij Roginskij bei Amnesty International



Vom 18.-20. Mai fand in Bochum die Jahresversammlung der deutschen Sektion von Amnesty International statt. Am Abend des 18. Mai wurden in einer Festveranstaltung der Marler Medienpreis für Menschenrechte vergeben. Auf dieser Veranstaltung – im Zusammenhang mit der Verleihung des Ehrenpreises an den langjährigen ZDF-Korrespondenten in Moskau Dirk Sager – kam Arsenij Roginskij zu Wort.

Liebe Kollegen, liebe Freunde,

für mich ist die Teilnahme an Eurer Mitgliederversammlung keine protokollarische Pflichtübung. Es ist die Erstattung einer sehr alten emotionalen Schuld. Ende der 60er Jahre – ich war damals noch ganz jung – hörte ich zum ersten Mal das Wort „Amnesty International“. Wir wussten wenig davon. Aber wir wussten, dass das ein Verein von Menschen in der ganzen Welt ist, die für die Freiheit von Menschen kämpfen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind. Das war etwas, was mir sehr nahe war. Es waren die ersten Jahre der Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion.

Diese Bewegung hat einige wichtige Prinzipien, die sich auch in den heutigen Menschenrechts-NGOs erhalten haben. Das erste Prinzip war Offenheit, Legalität – wir wollten auf keinen Fall im Untergrund wirken. Die Menschen sollten unter ihrem eigenen Namen agieren. Das zweite war die Sprache des Rechts. Die Dissidentenbewegung kommunizierte in dieser Sprache ebenso untereinander wie mit den Machthabern. Das dritte, wesentliche Prinzip war die Gewaltlosigkeit. Die blutige Erfahrung des 20. Jahrhunderts, Kriege, Massenterror – dies alles verlangte von uns, jeglicher Gewalt zur Lösung politischer Probleme eine Absage zu erteilen. Wichtig war außerdem die Symbolkraft in den Handlungen der Dissidenten. Welche Waffen standen uns zur Verfügung? Eben die, offen zu sagen, was wir dachten. Wenn wir uns mit Briefen und Appellen an die Regierung wandten – hofften wir denn wirklich darauf, Gehör zu finden? Glaubten wir, dass nach unseren Briefen Menschen freigelassen würden? Natürlich nicht. Als Menschen nach dem Einrücken der Panzer in Prag zur Demonstration gingen – rechneten wir etwa damit, dass die Panzer abgezogen würden? Natürlich nicht. All diese Prinzipien – Recht, Offenheit, Gewaltlosigkeit – verbinden uns mit Amnesty. Bei Amnesty ist dies alles aber offenbar schriftlich festgelegt, die russische Menschenrechtsbewegung dagegen hatte keinerlei Satzungen. Hier war nichts schriftlich fixiert, aber jeder Einzelne hatte das verinnerlicht.

Die Unterstützung durch Amnesty war uns immer sehr wichtig. Ich spreche hier im Namen sehr vieler meiner Freunde, die diese Unterstützung am eigenen Leib erfahren haben. Hier eine persönliche Erinnerung: 1981, im Dezember, als mein Verfahren schon vor dem Abschluss stand und dem Gericht übergeben werden sollte, wurde ich zu einem letzten Verhör gerufen. Am Ende zeigte mir der Vernehmer einige Postkarten, die meiner Akte angeheftet waren. Darauf stand in mehreren Sprachen jeweils die Forderung nach meiner Freilassung. Der Vernehmer fragte mich bei jeder Karte: „Kennen Sie diese Person?“ – „Kennen Sie diese Person? Machen Sie Aussagen über sie!“ Ich kannte niemanden. Es waren Briefe von Amnesty-Mitgliedern. Stellen Sie sich vor, wie warm mir ums Herz wurde, als ich diese Briefe sah. Und das waren nur einige Beispiele, später erfuhr ich, dass viel mehr Briefe angekommen waren. Und diese wenigen Blätter haben mir Kraft gegeben. Ich danke Amnesty dafür. (Applaus)

Dann fiel die Mauer, die UdSSR hörte auf zu existieren, und wir glaubten, in der Sowjetunion, in Russland werde es niemals mehr politische Gefangene geben. Wir haben uns oft getäuscht, und dies war einer unserer schwersten Irrtümer. Die 2000er Jahre zeigen das. Es wurde alles nur viel komplizierter. Der Artikel, der antisowjetische Propaganda unter Strafe stellte, wurde aus dem Strafgesetzbuch getilgt. Heute kommen die Menschen aus ganz verschiedenen anderen Gründen ins Gefängnis. Einer wegen Wirtschaftsverbrechen, die er nicht begangen hat, ein anderer wegen Drogen, die er nicht vertrieben hat, ein weiterer wegen Rowdytum. Es ist sehr schwer, sich da zurechtzufinden. In den letzten Jahren haben wir viel Zeit mit der Frage zugebracht, ob jemand ein politischer Gefangener ist oder nicht. Das zu entscheiden ist für uns schon schwierig, um wie viel mehr erst für Sie. Mit diesem Problem klar zu kommen, erfordert heute viel mehr Aufwand.

Ich freue mich, ja ich bin stolz, dass gerade die deutsche Amnesty-Sektion – Sie hier – den anderen Amnesty-Sektionen voraus ist. Sie hat ein besseres Gespür für diese Nuancen. Sie sind als erste dem Aufruf russischer Menschenrechtler gefolgt, sich für Chodorkovskij einzusetzen. Wir fürchteten damals schon, Amnesty wäre zu einer bürokratischen Organisation geworden und hätte kein Verständnis dafür. Dann erfuhren wir plötzlich, dass die deutsche Sektion Chodorkovskij als politischen Gefangenen anerkennt. Das war ein glücklicher Augenblick für uns. Danach hat Amnesty insgesamt diese Entscheidung nachvollzogen und ihn als Gewissensgefangenen anerkannt. Sie haben sich als erste ernsthaft mit dem Verfahren gegen Pussy Riot befasst. Nehmen Sie unsere Anerkennung hierfür entgegen. (Applaus)

Ich möchte Sie auf zwei ebenfalls recht komplizierte Probleme hinweisen. Das erste ist das so genannte Bolotnaja-Verfahren im Zusammenhang mit der Demonstration vom 6. Mai (2012). Das war eine große Demonstration, bei der es zu kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Das aufzuklären ist schwierig, aber es ist notwendig. Ich bitte darum, dass die deutsche Amnesty-Sektion diese Angelegenheit aufmerksam verfolgt. Ungefähr 30 Personen sollen deswegen vor Gericht gestellt werden.

Und schließlich das für mich schmerzlichste Thema – das Gesetz, das Peter Franck schon erwähnt hat, das „Agenten-Gesetz“. Dieses Gesetz schreibt vor, dass Organisationen, die Fördermittel aus dem Ausland erhalten und nach Ansicht der Machthaber politisch tätig sind, einen Antrag stellen, um als „ausländische Agenten“ registriert zu werden. Ein ausländischer Agent ist im russischen Bewusstsein eindeutig ein Feind, ein Verräter Russlands. Für Memorial ist damit noch das Gedenken an Hunderttausende Menschen verbunden, die man in der Stalin-Zeit unter Folter zu dem Geständnis gezwungen hat, ausländische Agenten zu sein. 

Dieses Gesetz ist ein moralischer Schlag ins Gesicht für alle unabhängigen Organisationen. Nicht eine einzige der sehr zahlreichen Organisationen in Russland hat sich freiwillig als ausländischer Agent bekannt und eine solche Erklärung abgegeben. Nicht eine einzige. Die Organisationen haben keinerlei Kontakt untereinander und sitzen an den verschiedensten Ecken unseres riesigen Landes, aber keine einzige von ihnen war dazu bereit. (Applaus) Dann begann der Krieg der Regierung gegen die NGOs. Bis jetzt haben ungefähr 50 Organisationen einen Befehl der Staatsanwaltschaft erhalten, einen entsprechenden Antrag zu stellen, andernfalls würden sie geschlossen. Andere wurden streng verwarnt, dass sie nicht ihrer Satzung entsprechend tätig sein dürften. Und noch Hunderte Organisationen werden in der nächsten Zeit solche Bescheide erhalten. Wir sind jetzt in einer sehr schwierigen Lage. Was sollen wir tun? Natürlich haben wir beim Straßburger Gericht gegen dieses Gesetz geklagt. (Applaus)

Natürlich wird sich jede Organisation gerichtlich gegen diese Anweisung, sich als Agent registrieren zu lassen, zur Wehr setzen. Aber wir haben kein richtiges, unabhängiges Gericht, und bei den russischen Gerichten sind unsere Erfolgsaussichten bei solchen Verfahren gering. Was bleibt uns da noch zu tun? Natürlich kann es sein, dass einige Organisationen geschlossen werden. Die meisten werden sich jedoch umorganisieren, vielleicht eine neue Bezeichnung und neue Strukturen erhalten. Ich bin sicher, dass die Tätigkeit der russischen NGOs weitergehen wird. Das ist es, worauf es ankommt, unsere Arbeit. Und in dieser schwierigen Situation sind wir angewiesen auf Solidarität. (Applaus) Wir verteidigen die fundamentalen Menschenrechte – das Recht auf Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Bürgerinitiative. Es wäre etwas zu pathetisch zu sagen, dass wir dies nur gemeinsam tun können. Aber das Gefühl der Gemeinsamkeit mit Ihnen ist für uns heute sehr wichtig. Das Gefühl der Freundschaft und Unterstützung durch eine so ausgezeichnete Organisation wissen wir zu schätzen. Danke. (Applaus)

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