Montag, 23. April 2012

Interview mit Masha Karp: Irina Flige berichtet über eines der Projekte, für das sie die Auszeichnung von "Index on Censurship" erhielt, das „virtuelle GULAG-Museum“:[1]


Gegen Ende der Sowjetzeit bestand verbreiteter Konsens, dass eine wesentliche Umgestaltung des Landes auf die Dauer nicht möglich sei ohne eine gründliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – d. h. auch nicht ohne fundierte Kenntnis der Geschichte des Terrors und des GULAG. Dieser Konsens war jedoch nicht von Dauer. Irina Flige berichtet, dass dieses Thema schon im Laufe der 90er Jahre zunehmend an den Rand gerückt wurde. Es gab indes zahlreiche Initiativen, die auf lokaler Ebene Gedenkzeichen und Mahnmale errichteten und Museen einrichteten, ohne jegliche Förderung von Seiten der Regierung, allerdings mitunter mit Unterstützung regionaler Behörden.

Der Wunsch, eine Übersicht über bereits existierende Sammlungen zum GULAG zu erhalten, zu eruieren, was, wenn auch verstreut, schon vorhanden war und wo, war ausschlaggebend für die Idee eines „virtuellen GULAG-Museums“, die 2003 entstand. Wie Irina Flige berichtet, existierten im Sommer 2011 400 GULAG-Museen in Russland, in den baltischen Ländern 14. Für die Verteilung dieser Museen, ihr völliges Fehlen oder ihre regionale Häufung, gebe es keine Erklärung (beispielsweise gibt es in Lettland und Estland jeweils eines, in Litauen dagegen zwölf). Im Rahmen des Projekts wurden diese Museen aufgesucht, ihre Exponate erfasst – photographiert und, wo nicht vorhanden, mit Erläuterungen versehen. Inzwischen existiert online ein Katalog, der 120 dieser Museen dokumentiert.

Ein anderer Aspekt sind die Hinrichtungsstätten der Opfer des politischen Terrors sowie die Stellen, an denen ihre Überreste verscharrt wurden. Während in den 90er Jahren Nachkommen – meist auf Grund von Zeugenaussagen – häufig erfolgreich nach solchen Stätten recherchiert hatten, gerieten diese in den folgenden Jahren wieder in Vergessenheit und drohten, so Irina Flige, ein zweites Mal verlorenzugehen, selbst da, wo man sie markiert hatte. Um dies zu verhindern, begann MEMORIAL 2003, sie zu registrieren– inzwischen sind über 800 Massengräber und über 1.500 Mahnmale erfasst, die aber alle keinen offiziellen Status haben, d. h. nicht unter Denkmalschutz stehen. Das bedeutet, dass diese Stätten gegen keinerlei Beschädigung geschützt sind – niemand ist für sie verantwortlich. Die Regierung ist hier völlig indifferent.

Ein „virtuelles“ Museum hat für Irina Flige den Vorteil, dass es viele Dinge präsentieren kann, die in einem realen Museum keinen Platz finden. Unter der Rubrik „Spuren des Terrors“[2] finden sich solche „Exponate“, die  in irgendeiner Weise mit dem Terror in Zusammenhang stehen, seien es Überreste von Lagern, Wachttürme, aufgegebene Bergwerke, Straßen, die nicht fertiggestellt wurden und die ein beredtes Zeugnis der nicht funktionierenden Ökonomie des GULAG darstellen. Es gibt darunter aber auch Fabriken, die heute noch in Betrieb sind, so wie auch viele Gefängnisse und Gerichtsgebäude. In der Regel sind diese „Exponate“ anonym und nicht durch Gedenktafeln kenntlich. Einstweilen ist diese Website allerdings noch eher „akademisch“ – sie funktioniert noch nicht wie ein „reales Museum“ mit Besichtigungstouren und Ausstellungen.

Eine virtuelle „Show“ gibt es allerdings unter der Bezeichnung „Gegenstände und Bilder des GULAG“. Sie zeigt zahlreiche Exponate, Gegenstände, die mit dem Leben im GULAG in Verbindung stehen, und diese Gegenstände „sprechen mit den Stimmen derer, die Erinnerungen hinterlassen haben“, sie sind unterlegt mit Zitaten aus Memoiren oder Interviews mit Häftlingen, die beschreiben, was sie mit diesen Gegenständen verbinden und welche Bedeutung ihnen im Lagerleben zukam. Gerade diese Site ist eine von denen, die laut Irina Flige von Multiplikatoren – Lehrern, Journalisten, Filmemachern – am häufigsten besucht wird.[3]

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