Interview mit Masha Karp: Irina Flige berichtet über eines der Projekte, für das sie die Auszeichnung von "Index on Censurship" erhielt, das „virtuelle GULAG-Museum“:[1]
Gegen Ende der Sowjetzeit
bestand verbreiteter Konsens, dass eine wesentliche Umgestaltung des Landes auf
die Dauer nicht möglich sei ohne eine gründliche Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit – d. h. auch nicht ohne fundierte Kenntnis der Geschichte des
Terrors und des GULAG. Dieser Konsens war jedoch nicht von Dauer. Irina Flige
berichtet, dass dieses Thema schon im Laufe der 90er Jahre zunehmend an den
Rand gerückt wurde. Es gab indes zahlreiche Initiativen, die auf lokaler Ebene Gedenkzeichen
und Mahnmale errichteten und Museen einrichteten, ohne jegliche Förderung von
Seiten der Regierung, allerdings mitunter mit Unterstützung regionaler Behörden.
Der Wunsch, eine
Übersicht über bereits existierende Sammlungen zum GULAG zu erhalten, zu
eruieren, was, wenn auch verstreut, schon vorhanden war und wo, war
ausschlaggebend für die Idee eines „virtuellen GULAG-Museums“, die 2003
entstand. Wie Irina Flige berichtet, existierten im Sommer 2011 400
GULAG-Museen in Russland, in den baltischen Ländern 14. Für die Verteilung
dieser Museen, ihr völliges Fehlen oder ihre regionale Häufung, gebe es keine
Erklärung (beispielsweise gibt es in Lettland und Estland jeweils eines, in
Litauen dagegen zwölf). Im Rahmen des Projekts wurden diese Museen aufgesucht,
ihre Exponate erfasst – photographiert und, wo nicht vorhanden, mit
Erläuterungen versehen. Inzwischen existiert online ein Katalog, der 120 dieser
Museen dokumentiert.
Ein anderer Aspekt sind
die Hinrichtungsstätten der Opfer des politischen Terrors sowie die Stellen, an
denen ihre Überreste verscharrt wurden. Während in den 90er Jahren Nachkommen –
meist auf Grund von Zeugenaussagen – häufig erfolgreich nach solchen Stätten
recherchiert hatten, gerieten diese in den folgenden Jahren wieder in
Vergessenheit und drohten, so Irina Flige, ein zweites Mal verlorenzugehen, selbst
da, wo man sie markiert hatte. Um dies zu verhindern, begann MEMORIAL 2003, sie
zu registrieren– inzwischen sind über 800 Massengräber und über 1.500 Mahnmale
erfasst, die aber alle keinen offiziellen Status haben, d. h. nicht unter
Denkmalschutz stehen. Das bedeutet, dass diese Stätten gegen keinerlei
Beschädigung geschützt sind – niemand ist für sie verantwortlich. Die Regierung
ist hier völlig indifferent.
Ein „virtuelles“ Museum
hat für Irina Flige den Vorteil, dass es viele Dinge präsentieren kann, die in
einem realen Museum keinen Platz finden. Unter der Rubrik „Spuren des Terrors“[2]
finden sich solche „Exponate“, die in
irgendeiner Weise mit dem Terror in Zusammenhang stehen, seien es Überreste von
Lagern, Wachttürme, aufgegebene Bergwerke, Straßen, die nicht fertiggestellt
wurden und die ein beredtes Zeugnis der nicht funktionierenden Ökonomie des
GULAG darstellen. Es gibt darunter aber auch Fabriken, die heute noch in
Betrieb sind, so wie auch viele Gefängnisse und Gerichtsgebäude. In der Regel
sind diese „Exponate“ anonym und nicht durch Gedenktafeln kenntlich. Einstweilen
ist diese Website allerdings noch eher „akademisch“ – sie funktioniert noch
nicht wie ein „reales Museum“ mit Besichtigungstouren und Ausstellungen.
Eine virtuelle „Show“
gibt es allerdings unter der Bezeichnung „Gegenstände und Bilder des GULAG“. Sie
zeigt zahlreiche Exponate, Gegenstände, die mit dem Leben im GULAG in Verbindung
stehen, und diese Gegenstände „sprechen mit den Stimmen derer, die Erinnerungen
hinterlassen haben“, sie sind unterlegt mit Zitaten aus Memoiren oder
Interviews mit Häftlingen, die beschreiben, was sie mit diesen Gegenständen verbinden
und welche Bedeutung ihnen im Lagerleben zukam. Gerade diese Site ist eine von
denen, die laut Irina Flige von Multiplikatoren – Lehrern, Journalisten,
Filmemachern – am häufigsten besucht wird.[3]
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