Wie die jüngste Entwicklung zeigt, ziehen die
Auswirkungen des „Agentengesetzes“ immer weitere Kreise. Obwohl das Gesetz
etliche Bereiche (wie Wissenschaft, Kultur, Religion, Medizin) ausdrücklich als
nicht-politisch definiert und damit von der Geltung ausschließt, sind auch
wissenschaftliche Institutionen wie etwa das Levada-Zentrum betroffen. –
Nachfolgende Erklärung wurde von einer Reihe namhafter Wirtschaftswissenschaftler
unterzeichnet.
Die Ereignisse der
letzten Jahre – nicht zuletzt die Entwicklung der „Strategie 2020“, die Arbeit
der „Offenen Regierung“, die Einrichtung des „Wirtschaftsrats beim Präsidenten“
– haben anschaulich demonstriert, dass die Regierung an unabhängiger
Wirtschaftsanalyse interessiert ist. Nach unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten
bemühen wir uns, konstruktiv auf Anfragen der Regierung zu reagieren, und sind
offen für eine substantielle Zusammenarbeit.
Allerdings hat jetzt eine
Kampagne eingesetzt, die diese Zusammenarbeit zerstören könnte. Die
Staatsanwaltschaft hat viele analytische Zentren, darunter auch die Assoziation
unabhängiger wirtschaftlicher Analysezentren, mit einer Welle von Überprüfungen
überzogen, um die Einhaltung des Gesetzes über ausländische Agenten zu kontrollieren.
Dies hat gezeigt, dass jede beliebige nichtkommerzielle Organisation ins Visier
genommen wird, die Mittel aus dem Ausland bekommt und deren Tätigkeit in irgendeinem
Zusammenhang mit Politik steht. Für die Überprüfung reicht es aus, wenn in den
Gründungsdokumenten einer Organisation die Worte „Politik“ oder „Machtorgane“
auch nur erwähnt sind, um als „ausländischer Agent“ zu gelten.
Ökonomen sind von Berufs
wegen ständig, ob sie wollen oder nicht, mit der Entwicklung und Realisierung von
Wirtschaftspolitik befasst. Es geht
um die Umsetzung von Initiativen der Machtorgane, die Mitwirkung an
wissenschaftlichen Analysen im Interesse einzelner Behörden, sowie die
öffentliche Diskussion sozialökonomischer Reformen. Die Globalität der modernen
Wirtschaftswissenschaft sowie der Rückstand in der russischen sozialökonomischen
Forschung sind Anlass für die Analysezentren, die Kooperation mit ausländischen
Partnern zu suchen. Sie bemühen sich um eine Diversifizierung der Finanzquellen
für ihre Arbeit, zu denen auch ausländische Quellen gehören können.
In der Logik der Justiz-
und Sicherheitsorgane ist dies alles ein Beweis dafür, dass die analytische Expertengemeinde
fast ausschließlich aus „ausländischen Agenten“ besteht, die sich als solche zu
registrieren haben. Jedoch bezeichnet das Wort „Agent“ im Russischen einen
Menschen, der in jemandes Interesse agiert, oder einen Spion. Wir haben indes
immer im Interesse unseres Landes gehandelt und tun dies weiterhin (und wir
sind ganz gewiss keine Spione). Daher wäre eine Registrierung als „ausländische
Agenten“ eine erlogene Selbstbezichtigung, auf die wir uns nicht einlassen
können.
Wofür wurden und werden
die Mittel aus ausländischen Quellen in der Wirtschaftswissenschaft verwendet?
Sie fließen in die ökonomische Bildung, in die Weitergabe praktischer Erfahrung
an junge Forscher, in die Entwicklung hoher Standards in wirtschaftlichen
Untersuchungen, in die Einrichtung von Forschungszentren und die Durchführung
theoretischer Untersuchungen sowie in die Veröffentlichung wirtschaftlicher
Forschungsergebnisse.
In all diesen Fällen
dient internationale Finanzierung (ebenso wie russische) der Entwicklung einer Expertengemeinde.
Wenn man berücksichtigt, dass der wesentliche Inhalt unserer Arbeit darin
besteht, die Wirtschaftsentwicklung des Landes zu fördern, kommen diese
ausländischen Mittel letztlich der Regierung und der Gesellschaft insgesamt
zugute. Die Unabhängigkeit der wirtschaftlichen Analysezentren sowie die
Objektivität ihrer Urteile und Prognosen werden gewährleistet durch Konkurrenz in
der Wirtschaftswissenschaft, die Öffentlichkeit der Resultate, die Möglichkeit,
diese zu prüfen und zu kritisieren, sowie die Diversifikation ihrer Finanzierungsquellen.
Unserer Auffassung nach
müssen die grundlegenden Definitionen des Gesetzes 121-F3[1]
mit dem gesunden Menschenverstand im Einklang gebracht und die Anwendungspraxis
dieses Gesetzes geändert werden. Selbstverständlich kann eine juristische
Person nur dann als „ausländischer Agent“ gelten, wenn sie nicht nur
ausländische Finanzierung erhält, sondern das Interesse eines ausländischen
Staates oder eines ausländischen Unternehmens vertritt. So wird auch in den anderen
Ländern verfahren, die den Begriff des „ausländischen Agenten“ verwenden.
Die Regierung zeigt sich jetzt
sehr interessiert an den Resultaten wirtschaftsanalytischer Untersuchungen. Diese basieren indes auf der Arbeit unserer Expertengemeinde in den letzten beiden Jahrzehnten, in denen wir russische
„Denkfabriken“ hervorgebracht, den Studenten das Rüstzeug für analytische
Arbeit vermittelt sowie Zeitschriften
und andere Infrastrukturen ins Leben gerufen haben, ohne die sich kein Programm
für die Wirtschaftsentwicklung des Landes entwickeln lässt.
Wenn das „Agentengesetz“
weiterhin rigoros und unrechtmäßig angewandt wird, wird die willkürliche
Anwendung seiner Bestimmungen dazu führen, dass Analysezentren geschlossen werden. Die Qualität von Wirtschaftsanalyse und Fachwissen wird deutlich nachlassen, und es wird nicht
möglich sein, die derzeitigen beruflichen Standards zu erhalten.
In der Geschichte unseres
Landes hat es bereits eine Periode gegeben, in der Wirtschaftswissenschaft und
ökonomische Analyse völlig unter staatlicher Kontrolle standen. Die Folge
dieser Kontrolle und der „ideologischen Scheuklappen“ war Inkompetenz in
wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Es ist bekannt, welches Ende das für die
sowjetische Wirtschaft genommen hat. Wir hoffen, dass die Staatsvertreter an
kompetenter und objektiver Analyse sowohl in der Wirtschaftspolitik als auch in
anderen Bereichen des öffentlichen Lebens interessiert sind. Und diese ist nur
von freien Experten zu erwarten, die keinem politischen Druck ausgesetzt sind.
(Es folgen über 20
Unterschriften)
30. Mai 2013
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