Samstag, 1. Juni 2013

Erklärung von Wirtschaftswissenschaftlern im Zusammenhang mit den Überprüfungen von NGOs auf die Einhaltung der Gesetzgebung zu „ausländischen Agenten“



Wie die jüngste Entwicklung zeigt, ziehen die Auswirkungen des „Agentengesetzes“ immer weitere Kreise. Obwohl das Gesetz etliche Bereiche (wie Wissenschaft, Kultur, Religion, Medizin) ausdrücklich als nicht-politisch definiert und damit von der Geltung ausschließt, sind auch wissenschaftliche Institutionen wie etwa das Levada-Zentrum betroffen. – Nachfolgende Erklärung wurde von einer Reihe namhafter Wirtschaftswissenschaftler unterzeichnet.

Die Ereignisse der letzten Jahre – nicht zuletzt die Entwicklung der „Strategie 2020“, die Arbeit der „Offenen Regierung“, die Einrichtung des „Wirtschaftsrats beim Präsidenten“ – haben anschaulich demonstriert, dass die Regierung an unabhängiger Wirtschaftsanalyse interessiert ist. Nach unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten bemühen wir uns, konstruktiv auf Anfragen der Regierung zu reagieren, und sind offen für eine substantielle Zusammenarbeit.

Allerdings hat jetzt eine Kampagne eingesetzt, die diese Zusammenarbeit zerstören könnte. Die Staatsanwaltschaft hat viele analytische Zentren, darunter auch die Assoziation unabhängiger wirtschaftlicher Analysezentren, mit einer Welle von Überprüfungen überzogen, um die Einhaltung des Gesetzes über ausländische Agenten zu kontrollieren. Dies hat gezeigt, dass jede beliebige nichtkommerzielle Organisation ins Visier genommen wird, die Mittel aus dem Ausland bekommt und deren Tätigkeit in irgendeinem Zusammenhang mit Politik steht. Für die Überprüfung reicht es aus, wenn in den Gründungsdokumenten einer Organisation die Worte „Politik“ oder „Machtorgane“ auch nur erwähnt sind, um als „ausländischer Agent“ zu gelten.

Ökonomen sind von Berufs wegen ständig, ob sie wollen oder nicht, mit der Entwicklung und Realisierung von Wirtschaftspolitik befasst. Es geht um die Umsetzung von Initiativen der Machtorgane, die Mitwirkung an wissenschaftlichen Analysen im Interesse einzelner Behörden, sowie die öffentliche Diskussion sozialökonomischer Reformen. Die Globalität der modernen Wirtschaftswissenschaft sowie der Rückstand in der russischen sozialökonomischen Forschung sind Anlass für die Analysezentren, die Kooperation mit ausländischen Partnern zu suchen. Sie bemühen sich um eine Diversifizierung der Finanzquellen für ihre Arbeit, zu denen auch ausländische Quellen gehören können.

In der Logik der Justiz- und Sicherheitsorgane ist dies alles ein Beweis dafür, dass die analytische Expertengemeinde fast ausschließlich aus „ausländischen Agenten“ besteht, die sich als solche zu registrieren haben. Jedoch bezeichnet das Wort „Agent“ im Russischen einen Menschen, der in jemandes Interesse agiert, oder einen Spion. Wir haben indes immer im Interesse unseres Landes gehandelt und tun dies weiterhin (und wir sind ganz gewiss keine Spione). Daher wäre eine Registrierung als „ausländische Agenten“ eine erlogene Selbstbezichtigung, auf die wir uns nicht einlassen können.

Wofür wurden und werden die Mittel aus ausländischen Quellen in der Wirtschaftswissenschaft verwendet? Sie fließen in die ökonomische Bildung, in die Weitergabe praktischer Erfahrung an junge Forscher, in die Entwicklung hoher Standards in wirtschaftlichen Untersuchungen, in die Einrichtung von Forschungszentren und die Durchführung theoretischer Untersuchungen sowie in die Veröffentlichung wirtschaftlicher Forschungsergebnisse.

In all diesen Fällen dient internationale Finanzierung (ebenso wie russische) der Entwicklung einer Expertengemeinde. Wenn man berücksichtigt, dass der wesentliche Inhalt unserer Arbeit darin besteht, die Wirtschaftsentwicklung des Landes zu fördern, kommen diese ausländischen Mittel letztlich der Regierung und der Gesellschaft insgesamt zugute. Die Unabhängigkeit der wirtschaftlichen Analysezentren sowie die Objektivität ihrer Urteile und Prognosen werden gewährleistet durch Konkurrenz in der Wirtschaftswissenschaft, die Öffentlichkeit der Resultate, die Möglichkeit, diese zu prüfen und zu kritisieren, sowie die Diversifikation ihrer Finanzierungsquellen.

Unserer Auffassung nach müssen die grundlegenden Definitionen des Gesetzes 121-F3[1] mit dem gesunden Menschenverstand im Einklang gebracht und die Anwendungspraxis dieses Gesetzes geändert werden. Selbstverständlich kann eine juristische Person nur dann als „ausländischer Agent“ gelten, wenn sie nicht nur ausländische Finanzierung erhält, sondern das Interesse eines ausländischen Staates oder eines ausländischen Unternehmens vertritt. So wird auch in den anderen Ländern verfahren, die den Begriff des „ausländischen Agenten“ verwenden.

Die Regierung zeigt sich jetzt sehr interessiert an den Resultaten wirtschaftsanalytischer Untersuchungen. Diese basieren indes auf der Arbeit unserer Expertengemeinde in den letzten beiden Jahrzehnten, in denen wir russische „Denkfabriken“ hervorgebracht, den Studenten das Rüstzeug für analytische Arbeit vermittelt  sowie Zeitschriften und andere Infrastrukturen ins Leben gerufen haben, ohne die sich kein Programm für die Wirtschaftsentwicklung des Landes entwickeln lässt.

Wenn das „Agentengesetz“ weiterhin rigoros und unrechtmäßig angewandt wird, wird die willkürliche Anwendung seiner Bestimmungen dazu führen, dass Analysezentren geschlossen werden. Die Qualität von Wirtschaftsanalyse und Fachwissen wird deutlich nachlassen, und es wird nicht möglich sein, die derzeitigen beruflichen Standards zu erhalten.

In der Geschichte unseres Landes hat es bereits eine Periode gegeben, in der Wirtschaftswissenschaft und ökonomische Analyse völlig unter staatlicher Kontrolle standen. Die Folge dieser Kontrolle und der „ideologischen Scheuklappen“ war Inkompetenz in wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Es ist bekannt, welches Ende das für die sowjetische Wirtschaft genommen hat. Wir hoffen, dass die Staatsvertreter an kompetenter und objektiver Analyse sowohl in der Wirtschaftspolitik als auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens interessiert sind. Und diese ist nur von freien Experten zu erwarten, die keinem politischen Druck ausgesetzt sind.


(Es folgen über 20 Unterschriften)
30. Mai 2013


[1] Das ist die Nummer des “Agentengesetzes”.

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