Basierend auf Unterlagen aus Familienarchiven, die
Memorial überlassen wurden, hat Memorial eine beeindruckende und berührende Ausstellung erarbeitet, die
Einblick in einen Bereich gibt, der sonst relativ geringe Beachtung findet.
Im Jahre 1937 fand der Briefkontakt sein Ende. Die Zeit der „Großen Säuberung“ war angebrochen, und die so genannten „Limits“ – Sollzahlen zu verhaftender oder zu erschießender Personen – galten auch für die Lager. In erneuten Verfahren wurden die Betroffenen zum Tode verurteilt, unter ihnen Aleksej Wangenheim, ebenso auch Pavel Florenskij[1]. Per Schiff wurden die Verurteilten in zwei Etappen aufs Festland transportiert. (Die noch verbliebenen Häftlinge wurden auf den Solovki selbst erschossen, da auf Grund der Witterung die Schifffahrt bereits eingestellt war.) Der erste Transport mit 1111 Personen, in dem sich Wangenheim befand, war lange verschollen. Was aus den Menschen geworden war, blieb unbekannt und nährte alle möglichen Gerüchte, etwa, dass die Insassen auf der Überfahrt ertränkt oder dass sie auf dem Land auf verschiedene Lager verteilt und nicht erschossen worden seien. Erst 1997 wurden in Sandormoch (Mezhvedogorsk, Gebiet Archangelsk) 150 Gräber mit ihren Überresten entdeckt.
Die Ausstellung „Papiny pisma“ (Papas Briefe)
zeigt Briefe Gefangener an ihre in Freiheit verbliebenen Familienangehörigen,
insbesondere an ihre Kinder, zum Teil auch die Briefe der Kinder an sie.
Vor allem handelt es sich um Personen, die zu
Beginn der 30er Jahre auf Grund „politischer“ Artikel befristete
Freiheitsstrafen bekommen hatten und davon überzeugt waren, nach Verbüßung
dieser Strafe freizukommen, sie rechneten fest damit, zu ihrer Familie
zurückkehren zu können. Diese Hoffnungen erwiesen sich in fast allen
vorgestellten Schicksalen als trügerisch, das Jahr 1937 machte sie in der Regel
zunichte, oder in späteren Jahren der Tod im Lager.
Im Mittelpunkt stehen die Briefe von Aleksej
Wangenheim (1881-1937). Memorial wurde kürzlich sein Archiv zur Verfügung
gestellt. Dieses Archiv ist ungewöhnlich reichhaltig – 168 Briefe Wangenheims aus der Haft
an seine Familie sind erhalten. Sie sind der Kern der Ausstellung.
Bereits vor der Revolution war Wangenheim wegen Teilnahme
an studentischen Unruhen verhaftet und zu Verbannung verurteilt worden. Er war
ein bedeutender Naturwissenschaftler, sein Spezialgebiet war die Meteorologie.
1934 wurde er verhaftet und wegen „Spionage“ sowie „Erstellung falscher Wetterprognosen“
zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er kam ins Solovezki-„Lager zur besonderen Verwendung“.
Seine Briefe stammen aus der Zeit in diesem Lager,
in dem er drei Jahre, von 1934-1937, inhaftiert war. Die Haftbedingungen waren
zu dieser Zeit deutlich besser als später, nach 1937. Wangenheim durfte im
Monat drei Briefe schreiben, zum Geburtstag konnte er seiner Tochter auch ein
Paket schicken. Viele Gefangene nutzten diese einzige verbleibende Möglichkeit,
um mit ihrer Familie in möglichst engem Kontakt zu bleiben, an der Erziehung
ihrer Kinder mitzuwirken, ihnen möglichst viel Wissen zu vermitteln, sie an
ihrem Leben teilhaben zu lassen und ihrerseits, soweit möglich, „in der
Familie“ zu leben.
So schreibt Wangenheim für seine anfangs vierjährige
Tochter Erzählungen, Märchen, Schilderungen aus der Natur, er erklärt, wie
Vögel ihre Jungen ernähren, wie Pflanzen sich vor Frost schützen, und ergänzt seine
Briefe mit etlichen Zeichnungen.
Er verfasst eine Serie von Rätseln, die er ebenfalls
mit Bildern illustriert. Den Schwierigkeitsgrad passt er dem jeweiligen Alter
des Kindes an. Teilweise sind seine Briefe regelrechte Unterrichtsstunden, zugleich
in Botanik und Mathematik: Anhand von Blättern verschiedener Pflanzen seiner
Umgebung veranschaulicht er Begriffe wie Symmetrie und Asymmetrie oder gerade
und ungerade Zahlen.
Die Sonnenfinsternis im Juni 1937 zeichnete er in ihren
verschiedenen Phasen und erklärte sie seiner Tochter im Einzelnen.
Aus ihm zugänglichen Materialien (Baumrinde, Ziegel,
Lehm usw.) komponierte er steinerne Mosaikbilder – z. B. das Solovezki-Kloster,
einen Pferdekopf, eine Schatulle mit einem Vogel.
Im Jahre 1937 fand der Briefkontakt sein Ende. Die Zeit der „Großen Säuberung“ war angebrochen, und die so genannten „Limits“ – Sollzahlen zu verhaftender oder zu erschießender Personen – galten auch für die Lager. In erneuten Verfahren wurden die Betroffenen zum Tode verurteilt, unter ihnen Aleksej Wangenheim, ebenso auch Pavel Florenskij[1]. Per Schiff wurden die Verurteilten in zwei Etappen aufs Festland transportiert. (Die noch verbliebenen Häftlinge wurden auf den Solovki selbst erschossen, da auf Grund der Witterung die Schifffahrt bereits eingestellt war.) Der erste Transport mit 1111 Personen, in dem sich Wangenheim befand, war lange verschollen. Was aus den Menschen geworden war, blieb unbekannt und nährte alle möglichen Gerüchte, etwa, dass die Insassen auf der Überfahrt ertränkt oder dass sie auf dem Land auf verschiedene Lager verteilt und nicht erschossen worden seien. Erst 1997 wurden in Sandormoch (Mezhvedogorsk, Gebiet Archangelsk) 150 Gräber mit ihren Überresten entdeckt.
Wangenheims Frau hatte nie an die Schuld ihres
Mannes geglaubt. Entgegen allen Empfehlungen hatte sie ihren Namen nicht
geändert und alle Briefe ihres Mannes aufbewahrt. Immer wieder schickte sie
Gesuche an Stalin, Jezhov, Berija und andere Funktionäre. Das gegen ihren Mann
verhängte Todesurteil war ihr nicht mitgeteilt worden, sondern die damals übliche
Version, er sei zu „zehn Jahren ohne Korrespondenzerlaubnis“ verurteilt. Die
Wahrheit hat erst ihre Tochter in den 1990er Jahren erfahren.
Ein ähnliches Schicksal wie Wangenheim hatte auch
Vladimir Levizkij (1915-1937).
Von Jugend an war er ein begeisterter Briefmarken-
und Münzensammler. Er war aktives Mitglied der Gesamtrussischen Gesellschaft der
Philatelisten. Viele Mitglieder dieser Gesellschaft wurden 1931 verhaftet, so
auch Levizkij. Als einer der angeblichen Anführer einer Verschwörung wurde er zu
zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt, die er (bis 1937) in verschiedenen
Abteilungen des Lagers „Siblag“[2]
verbüßte. Hier hat er alle Standorte verzeichnet, an denen er sich befunden
hat.
Und sein Sohn vermerkte auf einer Karte alle Orte,
von denen sein Vater ihm geschrieben hatte.
Da Levizkij 1937 alle Briefe, die er von seiner
Familie – Frau und Sohn – erhalten hatte, seiner Familie zurückschickte, sind
in diesem Falle die Briefe beider Seiten erhalten. Levizkij lässt seine Familie
an seinem Alltagsleben teilhaben, er zeichnet seine Wohnbaracke, sein
Arbeitszimmer mit allen Details, das Flussufer, an dem er täglich badet und vieles
mehr.
In Briefen diskutiert er mit seinem Sohn, wie man eine Radiostation bauen
kann, ebenfalls mit einer genauen Zeichnung illustriert. Seiner Leidenschaft
für Briefmarken folgend, malt er fiktive Marken mit Wertangaben (3 Rub. usw.)
auf seine Briefe.
1937 wurde ein erneutes Verfahren gegen Levizkij
eingeleitet, in dem er zur Höchststrafe verurteilt wurde. Das Urteil wurde noch
im selben Jahr vollstreckt.
Nikolaj Ljubtschenko (1896-1937), ein ukrainischer
Journalist und Schriftsteller, wurde 1934 (als angeblicher ukrainischer
Nationalist) zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er in Kasachstan und auf den
Solovki verbüßte. Er schreibt aus der Haft an beide Söhne, an den kleineren
Sohn extra mit besonders großer Schrift. Er bewahrt sich seinen Glauben an die
Sowjetmacht und akzeptiert ausdrücklich auch sein Urteil. Wenn die Sowjetmacht
es für richtig halte, ihn von seiner Familie zu trennen, dann sei dies auch
richtig. Seine Briefe sind gewissermaßen sein ideologisches Vermächtnis. 1937
wurde er in einem weiteren Prozess zum Tode verurteilt und erschossen.
Anders als Ljubtschenko gehörte Michail Bodrov
(1902-1937) tatsächlich zur Opposition, er war erklärter Trotzkist. 1929 wurde er
wegen konterrevolutionärer Aktivitäten verhaftet und zunächst nach
Semipalatinsk verbannt. Von dort schrieb er einen Brief an seinen Sohn, den er
unterzeichnete: „Papa, Dein unverbesserlicher Trotzkist“ – auch dies ein
ideologisches Vermächtnis...
Die Teilnehmer einer „trotzkistischen
Verschwörung“ in Semipalatinsk wurden 1935 in Arbeitslager in Komi sowie an der
Kolyma verbracht, Bodrov nach Kolyma. Dort organisierten sie zeitgleich die
beiden bedeutendsten Lageraufstände vor dem Krieg – einen Streik sowie einen
Hungerstreik. Im September 1937 verurteilte eine NKVD-Trojka 55 der Beteiligten
zum Tode, unter ihnen Michail Bodrov.
Jedoch nicht alle hier vorgestellten Biographien enden
1937.
Gavriil Gordon (1885-1942, Philologe, Pädagoge)
wurde 1929 erstmals verhaftet, 1936 erneut und zu fünf Jahren Freiheitsentzug
verurteilt, die er (da sich Nadezhda Krupskaja, Lenins Witwe, für ihn
eingesetzt hatte) in einem Lager für Kriminelle und damit unter günstigeren
Bedingungen im Dmitlag verbüßte. Dort verfasste er für seine ältere Tochter
eine „Kleine Einführung in die Philosophie“, für die jüngere eine „Einführung
in die Weltgeschichte“.
Gordons Haftzeit endete im August 1941. Inzwischen
hatte indes der Krieg begonnen, und seine Entlassung wurde deshalb ausgesetzt.
Er verhungerte Anfang 1942 im Lager – zu dieser Zeit war die Sterblichkeit auf
Grund der Kriegsbedingungen extrem hoch.
Anders als der Titel der Ausstellung vermuten
lässt, gibt es auch Briefe von Müttern aus den Lagern (und von ihren Kindern an
sie). Die Frauen waren entweder als „Familienmitglieder von
Vaterlandsverrätern“ (nach der Verhaftung ihrer Männer) ins Lager gekommen oder
auf Grund eigener Anschuldigungen verurteilt worden. Ebenso wie die Väter
versuchen sie mit ihren Briefen an die Kinder die Trennung wenigstens teilweise
zu überwinden.
Aleksandra Stogova (1899-1981) wurde 1938 als Frau
eines „Vaterlandsverräters“ zu fünf Jahren Haft verurteilt, unter anderem wurde
ihr die „Nichtanzeige ihres Mannes“ zur Last gelegt. Ihre beiden Töchter
blieben zurück. Ihre zärtlichen Briefe besonders an die kleinere Tochter Alla sind
geprägt von ihrem Wunsch, in der Vorstellung des Kindes präsent zu bleiben, sie
betont, in Gedanken immer bei und mit ihr zu sein.
Zu sehen ist übrigens auch ein Brief (vom März 1943) der älteren Tochter Ljuba aus einem Bunker an der Front, wo sie als Ärztin eingesetzt war.
Zu sehen ist übrigens auch ein Brief (vom März 1943) der älteren Tochter Ljuba aus einem Bunker an der Front, wo sie als Ärztin eingesetzt war.
Ein beeindruckendes Beispiel für die moralische
Unterstützung verhafteter Eltern durch ihre Kinder ist ein Brief von Julia
Dmitrieva an ihren Vater Nikolaj Dmitriev (1909-1962). Er war 1950 zu 10 Jahren
Lagerhaft verurteilt worden (1953 wurde er freigelassen). In Reaktion auf die
offenbar von ihm angedeutete Möglichkeit für seine Frau, sich scheiden zu
lassen, schreibt sie, er solle keine derartigen Gedanken hegen: „Ich befehle
Dir, den Gedanken von Dir zu weisen, dass Du Mama verlieren könntest … und
nicht mehr von solchen Gedanken zu schreiben.“ Sie fordert ihn ausdrücklich
auf, nicht den Kopf hängen zu lassen, im Gegenteil, er solle „stolz“ sein. Im
März 1953 richtete sie an den soeben zum Staatsoberhaupt ernannten Kliment Voroschilov einen
dringenden Appell, für die Entlassung ihres unschuldigen Vater aus der Haft zu
sorgen.
Natürlich kann hier nur ein sehr begrenzter Überblick über die Ausstellung gegeben werden.
Die Ausstellung wurde im April 2013 eröffnet.
Ursprünglich bis Ende Juli geplant, wurde sie auf Grund des regen Interesses
verlängert und wird im Herbst noch zu sehen sein. Wünschenswert wäre natürlich,
sie nochb an anderen Standorten sehen zu können, möglicherweise auch im Ausland, mit entsprechenden Erläuterungen und Übersetzungen. Vielleicht wäre eine Publikation dazu denkbar, in die noch mehr Exponate als die hier gezeigten aufgenommen werden könnten, eine Art annotierter Katalog, der auch in andere Sprachen übersetzt werden könnte.
Weitere Informationen in russischer Sprache:
[1] http://www.gulag.memorial.de/person.php?pers=121
[2] http://www.gulag.memorial.de/lager.php?lag=315
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