Das Interview[1]
folgt hier in einer leicht gekürzten Fassung
Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL setzt sich
gerichtlich gegen die Aufforderung, sich ins Register „ausländischer Agenten“
eintragen zu lassen, zur Wehr, das Antidiskriminierungszentrum Memorial in
Petersburg hat ein Verfahren bereits gewonnen[2],
Verbände in Rjazan‘ und Komi sollen Verstöße, die die Kommission festgestellt
hat, beheben[3]
… Weshalb hat die historische Abteilung von Memorial noch keinen Bescheid von
der Staatsanwaltschaft bekommen?
Ich weiß es nicht. Ich
vermute, wir werden noch einen erhalten, in dem Sinne, dass wir Hunderttausende
von Rubeln Strafe zahlen müssen. Auf dergleichen müssen wir uns gefasst machen.
Wäre es für Sie keine mögliche Option, das Etikett
des „ausländischen Agenten“ zu akzeptieren und Ihre Arbeit in Ruhe
weiterzumachen?
Dieser Terminus ist für
uns vollkommen unakzeptabel, er ist unsinnig und absurd. 80 Jahre hat es sich
in unserem Bewusstsein festgesetzt, dass ein Agent etwas sehr Schlechtes ist.
Jede Anklageschrift von 1937 enthielt ausnahmslos die Anklagepunkte Spionage,
Terrorismus und Agententätigkeit.
Allein in Moskau
verstehen sich 17.000 Personen als Mitglieder von Memorial – das sind jene, deren
Biographien durch politische Verfolgung geprägt sind. Jeder dieser 17.000 hat
eine Rehabilitierungsbescheinigung für seinen Vater oder Großvater, in der es
heißt: „Er wurde auf Grund der Anschuldigung, für eine ausländische Macht zu
arbeiten, erschossen….“ Und jetzt sollen wir erklären, wir seien „ausländische
Agenten“?! … Wie kann das angehen?!
Das heißt, diese Bezeichnung desavouiert ihre
eigene Arbeit, also das, was der „ausländische Agent“ tut?
Ich würde sagen, es wird
damit annulliert. Es gibt so etwas wie einen guten Namen. Was bedeutet der Name
für einen Menschen, der verfolgt worden ist? Was ist für ihn die
Rehabilitierung? Das ist das Wichtigste.
Jemand in Volgograd
erzählte mir eine bemerkenswerte Geschichte, wie er auf Kolyma freigelassen
wurde und, um noch das Schiff vor Ende der Schifffahrtsperiode zu erreichen, zu
Fuß durch die Tundra gehen musste, über die Hügel. Und da gibt es Tiere, die
einem Menschen wirklich gefährlich werden können. Ich fragte ihn erschrocken:
„Wie, sind Sie denn nachts allein durch die Tundra gegangen?“ Er schaut mich an
und sagt: „Wieso denn allein? Ich war nicht allein. Ich hatte meine
Rehabilitierungsbescheinigung dabei“…
Warum ist es so wichtig,
dass unsere Aktion „Rückkehr der Namen“ auf dem Lubjanka-Platz öffentlich und vernehmlich
erfolgt? Weil die Rehabilitierungsbescheinigungen irgendwo in einer Ecke im
Stillen ausgegeben wurden, und hier kann man den Namen des verfolgten Vaters
laut und öffentlich aussprechen, man kann sagen, dass er ein unbescholtener
Mensch war und sein Name unbefleckt ist
MEMORIAL hat ebenfalls
nichts außer dem ehrlichen Namen. Und jetzt sollen wir diesen Namen mit Schmutz
bewerfen? Man kann einem Geld und Zuschüsse wegnehmen, aber nicht den Namen.
Der Name ist das einzig wichtige. Hiervon darf man nicht abrücken.
Außerdem darf man dem
Staat nicht das Recht auf eine derartige Terminologie einräumen. Das Gesetz ist
so formuliert, dass man jeden einer politischen Tätigkeit bezichtigen kann.
Wenn man sich für kranke Kinder einsetzt, nimmt man Einfluss auf die staatliche
Gesundheitspolitik. Wenn man Hauswarte unterstützt, beeinflusst man die
Kommunalpolitik… Wenn man bekennt, ein ausländischer Agent zu sein, muss man
jede politische Tätigkeit beenden, andernfalls drohen Sanktionen. Ein solches
Eingeständnis ist der erste Schritt zur Schließung. Es ist ein circulus
vitiosus.
Wir arbeiten ja nun an
Projekten mit verschiedenen Sponsoren. Ein Projekt fördert eine russische
Stiftung, ein anderes bekommt Fördermittel der EU. … Es gibt auch private
Spenden.
Sehen Sie, hier ist eine
Überweisung von 1000 Rubeln. Der Onkel des Spenders wurde 1937 erschossen.
Eingedenk seines Onkels überweist er Geld an uns. Es gibt Spender, die uns jährlich
Geld überweisen, jedes Jahr.
Können Sie von diesen Spenden existieren?
Nein. Es geht nicht
einmal darum, dass das nicht viel ist. Heute bekommen wir etwas, morgen
vielleicht nicht. Und wir müssen ja leben, Steuern zahlen, die Beleuchtung und
Heizung des Museums und des Archivs finanzieren.
Ihnen wurden im Dezember Zuschüsse gekürzt?
Ja. Die US-Agentur für
internationale Entwicklung (USAID) wurde gezwungen, Russland zu verlassen, und
bei uns war gerade eine auf fünf Jahre angesetzte Projektförderung angelaufen.
Deshalb sind wir finanziell in einer schlechten Lage. Wenn es gar kein Geld
mehr gibt, werde ich ehrenamtlich arbeiten, das haben wir in unseren
Anfangsjahren auch getan. Aber unsere jungen Mitarbeiter werden natürlich
weggehen.
Wir ist die Überprüfung von MEMORIAL verlaufen?
Teils absurd, teils lächerlich.
Sie haben 70 Kilo Papiere mitgenommen, eine gigantische Menge, die musste man
mit einer Schubkarre transportieren. Die ganze Arbeit stand still, ständig
verlangten sie irgendeinen Unsinn von uns, etwa einen Rapport über den
jeweiligen Verbleib unserer Arbeitsbücher. Im Petersburger Memorial-Verband wollten
sie die Ergebnisse einer Fluorographie sehen – man hätte ja Kontakt zur
Bevölkerung. Irgendwer musste sogar eine Impfbescheinigung für Diphterie
vorlegen…
Dann beanstandeten sie die
Präsentation von Jan Raczyńskis Buch „Vollständiges Verzeichnis der Moskauer
Straßennamen“ – dieses Buch sei doch nicht von MEMORIAL herausgegeben worden.
Es geht jetzt gar nicht darum, dass das Buch aus einer immensen Arbeit
hervorging, die mit der Recherche nach Adressen zu tun hatte, an denen Moskauer
Bürger vor ihrer Inhaftierung gewohnt hatten. Wir präsentieren ja auch Bücher anderer
Autoren, die nicht unmittelbar mit MEMORIAL zu tun haben, und wir suchen diese
Bücher selbst aus.
War Ihre historische Arbeit nicht der Beginn der Tätigkeit
von MEMORIAL?
Ja. Mein eigener Sohn hat
mir kürzlich gesagt, dass MEMORIAL in erster Linie als Menschenrechtsorganisation
wahrgenommen wird und dass von der historischen Arbeit niemand etwas weiß,
obwohl die historische Komponente bereits vor der Menschenrechtsarbeit
vorhanden war.
Das war 1988. Damals
wussten die Leute nicht, was es bedeutete, zu „10 Jahren Haft ohne
Korrespondenzerlaubnis“ verurteilt zu sein. Sie kamen zu uns: „Vor 50 Jahre
wurde mein Mann/Bruder/Vater von Leuten in Uniform abgeholt, und ich weiß
nicht, wo er ist. Vielleicht ist doch irgendwas bekannt?“
In diesen Jahren hatten
wir viele ehrenamtliche Mitarbeiter. Wir haben ein Archiv, ein Museum und eine Bibliothek
eingerichtet.
Sobald bekannt wurde, dass es MEMORIAL gibt und dass man
sich dahin wenden kann – um Ratschläge und Informationen zu bekommen oder um
über jemanden zu berichten –, da wurden wir mit einer solchen Masse von Briefen
überschschwemmt, dass die Post anfing, zu streiken. Das ist keine Übertreibung –
es gab einen Augenblick, in dem die Post gesagt hat: „Kommen Sie und holen Sie
Ihre Briefe mit dem Auto.“ (…)
Wir begriffen, dass für
uns das Schicksal jedes einzelnen Menschen wichtig ist, das Schicksal als
Einheit der Geschichte. Selbst wenn das Schicksal bei allen, mit denen wir uns
befassten, auf das gleiche hinauslief – auf einen Genickschuss oder Lagerhaft –
es ging uns jedoch darum, wie es dahin kam, wie sie das alles erlebten. Wie?
Warum? Aus offiziellen Dokumenten geht das nicht hervor. Deshalb haben wir das
Archiv von MEMORIAL durch Unterlagen ergänzt, die die Familien aufbewahrt hatten:
Briefe, oft illegal aus der Haft übermittelt, Memoiren, die die Menschen
aufgezeichnet hatten, mündliche Erinnerungen, die wir selbst sammelten.
Manchmal bringen uns Menschen Kopien aus den archivierten Ermittlungsakten
ihrer verfolgten Verwandten, und wir können die Verhöre, in denen aus einem
Menschen ein Feind gemacht wird, etwa mit den Briefen vergleichen, die dieser
Mensch aus dem Lager geschrieben hat. Das sind Dokumente, deren Wert und
emotionale Bedeutung gar nicht wiederzugeben ist.
Über wie viele Häftlinge haben Sie Informationen?
Im Archiv vom MEMORIAL
Moskau ungefähr über 80.000 Personen. Außerdem gibt es eine Datenbank mit
kurzen Angaben, die fast 3 Millionen Menschen erfasst. Im FSB-Archiv sind mehr,
aber was besagt das schon?
Zu Anfang widmeten wir
uns noch der materiellen Unterstützung besonders Bedürftiger. In den 80er und 90er Jahren waren ein Huhn, ein Kilo
Buchweizen oder Waschmittel wichtiger als eine Rehabilitierungsbescheinigung,
es ging ja ums Überleben. (…). Jetzt sind die Verfolgten als Opfer anerkannt,
sie bekommen eine Entschädigung, allerdings ist diese rein symbolisch.
Von den Personen, die in den Lagern gewesen sind,
sind nur noch wenige übrig, die wesentlichen Informationen über sie sind
bekannt. Wie sieht Ihre Arbeit heute aus? Bekommen Sie immer noch Briefe?
Stellen Sie sich vor, manche
Menschen glauben bis heute, dass ihre Angehörigen am Leben sind. Vor kurzem kam
eine ältere Dame zu uns, eine Emigrantin. Sie hat lange in Amerika gelebt, die
90er Jahre hat sie nicht mitbekommen, jetzt möchte sie ihren Vater finden: „Er
war zu zehn Jahren ohne Korrespondenzerlaubnis verurteilt, er kam in entlegene
Lager. Er ist herausgekommen und irgendwo gestorben. Ich möchte gerne sein Grab
besuchen.“ Ich habe ihr gesagt: „Er hat das nicht überlebt, er ist erschossen
worden.“ Sie hat die russische Sprache verlernt und begann abwehrend zu
gestikulieren: „No, no! It’s impossible“.
Einer unserer Mitarbeiter
ist für die Briefe zuständig. Jeden Monat beantwortet er Hunderte von Anfragen
nach Angehörigen. Es kommen auch Leute in unsere Sprechstunden. Häufig sind es Forscher,
die bestimmte Personengruppen suchen, etwa Physiker oder Geologen. Es gibt
keine Instanz, an die sie sich sonst wenden könnten. Vorhin hat mich ein
Homöopath aufgesucht. Er arbeitet über die Geschichte der Homöopathie. Ich habe
einen der verfolgten Homöopathen für ihn herausgesucht. Hier haben Sie ein
Zitat aus seiner Strafakte: „Er gehörte der konterrevolutionären Gruppe der
homöopathischen Ärzte und einer bösartigen faschistischen terroristischen
Pogrom-Organisation an.“ Was für erfindungsreiche Formulierungen! Er wurde
natürlich erschossen…
Sie stellen weiterhin Erschießungslisten zusammen?
Natürlich. Die letzte Ausgabe
der Datenbank stammt von 2007, mit etwas unter 3 Millionen Menschen.
Statistischen Angaben zufolge waren es etwa 12 Millionen, so dass noch viel zu
tun bleibt.
Viele berichten uns vom
Schicksal ihrer Groß- und Urgroßväter. Diesen Personen geht es darum, dass
diese Informationen in unsere Datenbank und ins Internet kommen, dass sie
öffentlich bekannt werden, dass da schwarz auf weiß steht, dass ein Mensch in
dieses Verzeichnis aufgenommen wurde, weil er rehabilitiert ist, er war
unschuldig. Auch Verwandte können auf diese Weise ausfindig gemacht werden: In
den Jahren des Terrors wurden die meisten Familien im ganzen Lande verstreut,
wie zu Kriegszeiten, allerdings insofern schlimmer, als es unmöglich war, einander
zu suchen. (...)
Kürzlich kam jemand
zu mir – das war eine klassische Geschichte. Er ist 1936 geboren, sein Vater
wurde 1937 verhaftet, der Sohn kam ins Kinderheim, er wusste überhaupt nichts
von seinen Angehörigen, rein gar nichts. Vor kurzem übersandte man ihm die
Rehabilitierungsbescheinigung seines Vaters und Dokumente aus seiner Akte.
Darin heißt es, dass er eine Kusine hat. Er kam zu mir und sagte: „Ich möchte
meine Kusine finden, sie könnte mir was über meine Familie berichten.“ Ich habe
sie ihm buchstäblich in 15 Minuten gefunden. Es stellte sich heraus, dass die
Kusine Erinnerungen ihrer Mutter veröffentlicht hat, also seiner Tante. Jemand,
der nichts von seiner Familie gewusst hat, findet mit Hilfe dieses Buches seine
Familie. Er erfährt, dass sie acht Personen waren, und liest etwas über seine
Großeltern und Urgroßeltern. Wir finden Schwestern, Brüder, Klassenkameraden…
Im letzten Jahr – das war ein großer Erfolg – fand ich für eine Frau ein Foto
ihres erschossenen Vaters, das sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Das war
Zufall – aber solche Zufälle gibt es bei uns jeden Tag.
Wie verhalten sich offizielle Organisationen Ihnen
gegenüber?
Ich weiß, dass man das
Wort „MEMORIAL“ im Fernsehen nicht liebt. Ich wurde schon oft interviewt, und
im Untertitel heißt es dann etwa: „Historikerin aus Moskau“.
Arbeiten die staatlichen Archive – z. B. das
FSB-Archiv – mit Ihnen zusammen?
Das Verhältnis zu ihnen
ist unterschiedlich. Es kam vor, dass uns Leute aufsuchten und erzählten, im
FSB-Archiv habe man ihnen gesagt: „Gehen Sie zu MEMORIAL, da wird man ihnen
alles sagen.“ Über manche Themen konnten wir kooperieren, es gab sogar gemeinsame
Publikationen. Aber in den letzten Jahren hat sich das alles geändert. Forscher
erhalten keinen Zugang mehr zu Archiven. Offiziell gibt es diese Möglichkeit
immer. Nach dem Gesetz können 75 Jahre lang nur Angehörige die Akten von
Verfolgten einsehen. Danach werden sie freigegeben und sind allen zugänglich.
Theoretisch müssten also die Akten der 30er Jahre bereits offen sein. Aber der
Prozess der Freigabe selbst kann noch 75 Jahre lang dauern!
Unser Traum ist es, etwas
in der Art zu schaffen, wie es für die Soldaten, die im Krieg gefallen sind,
oder für die Opfer der Leningrader Blockade gemacht wurde. Diese Informationen
sind größtenteils zusammengestellt und zugänglich. Etwas Vergleichbares für die
Opfer politischer Verfolgung einzurichten ist nicht so schwierig, es muss nur
eine Verfügung von oben dafür geben, dass alle regionalen FSB-Archive ihre Unterlagen
zur Verfügung stellen.
Sie sind ja vorhanden. Zu unserem Glück steht auf
politischen Akten der Stempel „Für immer aufbewahren“. Ich weiß nicht, was sie
sich dabei dachten, als sie diesen Stempel anbrachten, wahrscheinlich hielten
sie sich für Götter. Aber um diese Informationen heute zu bekommen, bedarf es
des guten Willens der FSB-Leitung, die Mitarbeiter anweisen muss, die Bestände
eingestellter Verfahren zu sichten und die erforderlichen Angaben
zusammenzustellen-- Das ist mühsam, öde,
sie haben genug u tun, die oberste Leitung gibt ihnen dazu keinen Auftrag, und
von selbst fangen sie nicht damit an. Sie merken ja auch, woher der Wind weht,
und wittern den Geist der Zeit.
Die Freigabe historischer Dokumente durch die
Überbehördliche Kommission zum Schutz von Staatsgeheimnissen hat nahezu
aufgehört. Was bedeutet das für Sie? Kann man das als Signal für die Öffentlichkeit
bewerten?
Ich glaube, ja. Die
herrschende Einstellung lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Es reicht. Alles, was Sie wissen müssen,
haben Sie erfahren.“ Zudem hören wir die ganze Zeit, dass der Patriotismus gefördert
werden muss. Und Patriotismus baut auf Positivem auf. Wie oft kann man noch
sagen, dass es bei uns dunkle Flecken und Leichen im Keller gibt…
Kann man daraus, wie sich das Vorgehen von
Beamten MEMORIAL gegenüber ändert, darauf schließen, dass sich die staatliche Haltung
zum Thema der Repressionen geändert hat?
Ich meine ja. Die Rede
von den Repressionen behandelt ja nicht nur Personen, die ermordet wurden. Es
geht um die Menschenrechte. Und die offizielle Haltung ist, dass das ganze
Reden über die Repressionen am besten nur auf Friedhöfen stattfinden soll. Es
wurden Menschen umgebracht, also bauen wir eine Kapelle und beten wir.
Nehmen wir ein Beispiel:
Die Solowezki-Inseln. 600 Jahre hat dort ein Kloster existiert. Und das Lager
bestand von 1923 bis 1941, 18 Jahre, das ist doch nichts! Was sind 18 Jahre im
Vergleich mit der 600jährigen Geschichte des bedeutenden, wunderbaren
Solowezker Patriarchen-Klosters! Deshalb wurde das Lagermuseum, das sich im
Solowezker Kreml befand – im Kreml hatte ja die Lagerverwaltung ihren Sitz –
vom Territorium des Klosters entfernt und natürlich beim Friedhof
untergebracht. Oder die Solowezker Kirche auf dem Sekir-Berg, die als Karzer diente.
Dort wurde nicht geheizt, deshalb hat man die Leute nur eine Nacht dort
untergebracht – am Morgen hatte sich jede Umerziehung bereits erübrigt, alle
waren erfroren. Die Innenwand war voll von Graffiti der Sterbenden. – Was wurde
damit gemacht? Natürlich haben sie das beseitigt, übertüncht.
Der Terminus „ausländischer Agent“ gehört mehr in die
Zeit, mit der sich MEMORIAL befasst, als in die Gegenwart. Haben Sie nicht das
Gefühl, dass sich jene Zeit terminologisch und rhetorisch der heutigen
annähert?
Ich weiß es nicht. Manche
Worte sind zweifellos sehr verletzend. Wenn jemandem nichts Neues einfällt,
dann greift er auf seine Reserve, sein Gedächtnis zurück. Wir sind nicht mit
der romantischen Kinderliteratur groß geworden, wir wurden nicht in Wettkämpfen
erzogen, sondern anhand von Feindbildern.
Wahrscheinlich ist es die Arbeit des
Menschenrechtszentrums MEMORIAL, die die wesentlichen Vorbehalte der Regierung
auslöst. Haben Sie nicht daran gedacht, sich davon zu distanzieren und dieselbe
Arbeit unter anderem Namen fortzuführen?
Und wie sollen wir uns
nennen? Nicht MEMORIAL, sondern Ritual? Gesellschaft „Pamjat“ (Erinnerung)?!
Auf die Komponente der
Menschenrechtsarbeit zu verzichten wäre einigermaßen abwegig. Wenn wir
politische Verfolgungen als Menschenrechtsverletzungen ansehen – wie können wir
dann auf Menschenrechtsarbeit verzichten? Wenn wir Lageraufstände als einen
Versuch ansehen, Widerstand gegen den Staat zu leisten – worum handelt es sich
dann? Um die Geschichte der Verfolgungen oder die Geschichte des Einsatzes für
Menschenrechte? Wir sprechen vom 30. Oktober als dem Tag der Erinnerung an die
Opfer politischer Repressionen – er ist jetzt zu einem Gedenktag geworden. Aber
in Wirklichkeit ist das der Tag, an dem der Dissident Kronid Ljubarskij einen
gemeinsamen Hungerstreik politischer Gefangener organisiert hat.[4] Das geschah nicht, um der Ermordeten zu gedenken,
sondern als Protest, als Kampf um die Menschenwürde. Es war gegen
Menschenrechtsverletzungen gerichtet.
Haben Sie denn irgendwelche Auswege erwogen? Etwa
sich im Ausland zu registrieren, wie das Menschenrechtsorganisationen in
Belarus tun?
Wie - sollen wir uns in
die Illegalität begeben?! Wir wissen alle, dass Belarus außerhalb der
Rechtsnormen steht. Wenn wir dasselbe tun wie dort, heißt das einzugestehen,
dass Russland sich ebenfalls auf dem Weg zu einem diktatorischer Polizeistaat befindet.
Wenn das so ist – dann sind wir als gesellschaftliche Organisation auch dafür
verantwortlich.
Wir können nicht in der
Illegalität arbeiten, wir haben ein großes Archiv und einen großen Bestand an
Gegenständen aus den Lagern haben, ein Archiv von Briefen und Dokumenten. Das
haben wir gesammelt, das ist uns anvertraut worden. Diese Papiere, die wir
haben, sind ja die letzten. Mehr gibt es nicht und ist auch nirgends zu
bekommen. Wir sammeln sie schon seit über 30 Jahren. Für mich sind das,
verzeihen Sie das Pathos, menschliche Schicksale.
Wissen Sie, ich verstehe
es nicht zu beten, ich bete nicht. Ich bin still und warte ab. Aber ich denke
mir, es kann doch nicht sein, dass immer die Ungerechtigkeit siegt. Es kann
nicht sein, dass MEMORIAL nicht
bestehen bleibt.
22.7.2013
[2]
Inzwischen wurde noch ein weiteres Verfahren angestrengt, die Entscheidung steht
noch aus (s. http://www.memorial-de.blogspot.de/2013/09/antidiskiminierungszentrum-von-memorial.html
und http://www.memorial-de.blogspot.de/2013/10/gerichtsentscheid-zugunsten-der.html)
[3]
MEMORIAL Komi hat inzwischen vom Justizministerium bescheinigt bekommen, es sei
kein „ausländischer Agent“.
[4]
Kronid Ljubarskij (1934 – 1996), ursprünglich Physiker, 1972-1977 aus
politischen Gründen inhaftiert, 1977 aus der Sowjetunion ausgereist, lebte bis
zu seiner Rückkehr 1992 in München, wo er u. a. regelmäßige
Informationsbulletins über politische Gefangene in der UdSSR herausgab.
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